Unzählige male habe ich sie in den letzten Tagen gehört und gelesen, die guten Wünsche für das neue Jahr: dass alles besser wird als im vergangenen Jahr. Als ob mit einer neuen Jahreszahl einfach eine Reset-Taste gedrückt und alles wieder auf Werkseinstellung gesetzt wird. Als ob mit einem neuen Tagebuch auch meine Geschichte neu beginnt. Als ob ich heute wirklich anfangen könnte, etwas in meinem Leben zu verändern, das mir das ganz letzte Jahr nicht gelungen ist. Und selbst wenn ich mich heute aufraffe, einen neuen Beitrag für meine Homepage zu schreiben, weiß ich doch genau, dass das nichts daran ändert, dass mir das Schreiben unendlich schwer fällt und bis zum nächsten Beitrag wahrscheinlich wieder Monate vergehen.

Was hat sich denn mit der neuen Jahreszahl geändert? Der neue Morgen ist genauso wolkenverhangen wie gestern. Ich wache mit denselben Schmerzen auf wie jeden Morgen. Es sind immer noch dieselben Gedanken, die mich in Unruhe versetzen. Dieselben Menschen, mit denen ich meine Probleme habe. Die Konflikte haben sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Corona wütet weiter und fordert seine Opfer. Und der ehemals sattgrüne Fichtenwald vor meinem Fenster bleibt unansehnlich und kahl, weil er im Kampf gegen den Borkenkäfer verloren hat. Es tut mir Leid, aber ich kann der Neujahrs-Euphorie wirklich nichts abgewinnen.

Was ist los mit mir? Befinde ich mich gerade in einer depressiven Phase? Nein, ganz und gar nicht! Denn wenn ich an das vergangene Jahr denke, erfüllt mich eine große Dankbarkeit. Bei allem, was wirklich katastrophal war – und das möchte ich auf keinen Fall relativieren oder schönreden – erkenne ich doch so viel Überlebenswillen, Kraft und vor allem Kreativität. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass Homeoffice in so großem Stil funktioniert, sowohl im Büro als auch in der Schule, im Fitnessstudio und sogar in der Kirche. Wie viel haben wir dazugelernt, von dem wir im Traum nicht dachten, dass wir es mal brauchen würden. Und trotz räumlicher Distanz sind wir uns vielfach innerlich näher gekommen.

Nein, ich bin kein Pessimist und möchte auch niemandem die Neujahrsfreude vermiesen. Vielleicht möchte ich nur den Blues verhindern, der uns überfällt, wenn die Realität der nächsten Wochen uns einholt. Und deshalb wünsche ich meinen Lesern und mir selbst für dieses vor uns liegende neue Jahr

  • die Einsicht, dass nicht eine Jahreszahl und damit verbundene gute Vorsätze Veränderung für mein Leben bringen, sondern nur das, was ich täglich aktiv gestalte
  • dass wir unser altes Tagebuch nicht vernichten, sondern unsere Geschichte weiter schreiben als unsere Geschichte und nicht die, die uns andere diktieren
  • Geduld, die nicht in lähmender Tatenlosigkeit endet, sondern damit rechnet, dass Neues aufbricht
  • Kreativität, die aus Zitronen Limonade und aus Mist Dünger macht

In diesem Sinne: ein gesegnetes neues Jahr 2021!