Ich erinnere mich sehr genau an eine Schulstunde am Gymnasium im Fach Sozialkunde, in der die Rede auf Homosexualität kam. Der Lehrer fragte, ob jeder wüsste, worum es ging. Ich hatte nie davon gehört, aber ich traute mich auch nicht, mich zu melden. Das, was ich meinte zu verstehen, kam mir so absonderlich vor, dass ich beschloss, das wäre ein Thema für die gottlose Welt, aber nicht für ein frommes Mädchen. Nur ganz vereinzelt wurde das Thema mal in einer Predigt oder einem Buch angeschnitten: immer so, dass es mich in dieser Vorstellung bestärkte.
So war bei mir der Stand der Dinge bis kurz vor meinem 50. Geburtstag. Zu dem Zeitpunkt war ich 20 Jahre verheiratet, hatte zwei Kinder und war im Großen und Ganzen glücklich. Genau genommen war unsere Ehe eine perfekte Arbeits- und Wohngemeinschaft, und für unsere Umgebung stellten wir eine ideale christliche Familie dar. Dass hinter der perfekten Fassade aber vieles morsch war, habe ich selbst jahrelang nicht sehen wollen, so lange, bis ich nicht mehr verdrängen konnte, was ich eigentlich schon lange vorher ahnte: Mein Mann ist schwul! Mit diesem Paukenschlag kam sowohl meine innere als auch meine äußere Welt gefährlich ins Wanken. Ich hatte nur noch einen Strohhalm, an dem ich mich verzweifelt festklammerte: Mein himmlischer Vater, dem ich bisher immer vertraut hatte, musste das zugelassen haben und womöglich der ganzen Geschichte auch noch einen tieferen Sinn geben. Ich weiß nicht, wo ich ohne dieses Vertrauen gelandet wäre!
Nach anfänglicher Wut, Verzweiflung und Ohnmacht begann ich nachzudenken: Was war jetzt mit meinen Glaubenssätzen, die ich zur Homosexualität hatte? Sollte ich meinen Mann verdammen, so wie ich es gehört und gelesen hatte? Sollte ich der Familie zuliebe Forderungen stellen? Ich konnte es nicht, weil ich spürte, dass ich es hier mit Fakten zu tun hatten, die nicht veränderbar waren.
Ein Jahr lang versuchte ich, meinen Mann zu verstehen und ging jede Menge Kompromisse ein in dem verzweifelten Versuch, die Fassade unserer Ehe zu retten und die Familie zusammenzuhalten. Monatelang konnte ich mit niemandem über das reden, was mich so quälte. Dann ging bei mir nichts mehr: ich hatte mir zu viel abverlangt, war ständig über meine Kräfte hinaus gegangen und rutschte in eine fette Depression. An diesem Tiefpunkt angelangt musste ich endlich akzeptieren, dass unsere Ehe gescheitert war und dass es an der Zeit war, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sowohl beruflich als auch örtlich habe ich noch einmal ganz neu begonnen.
Inzwischen weiß ich, dass ich kein Einzelfall bin. Gerade im konservativ-christlichen Umfeld ist auf diesem Gebiet die Not groß, und weder Homosexuelle noch ihre Angehörigen trauen sich, über das Thema zu reden, geschweige denn sich Hilfe zu suchen. Für Homosexuelle gibt es inzwischen Hilfsangebote im christlichen Bereich, aber Angehörige finden kaum Hilfe. Mir ist es ein Herzensanliegen, mit der „Nische“ diese Lücke zu schließen. Damit mir neben meinem eigenen Erfahrungsschatz auch professionelle Werkzeuge unterstützend zur Verfügung stehen, habe ich die Zeit meiner Neuorientierung für ein Studium als Psychologischer Berater genutzt.
Wenn ich jetzt zurückblicke, dann muss ich feststellen, dass die Zeit des Co-Outings meine größte Herausforderung im Leben war und ich gerne darauf verzichtet hätte. Aber diese Zeit hat mich enorm geprägt, meinem Glauben eine neue Dimension gegeben und mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin. Und dafür bin ich meinem Gott von Herzen dankbar!
„Danke“ möchte ich an dieser Stelle auch all denen sagen, die mich durch diese Zeit begleitet haben, ein offenes Ohr und Zeit für mich hatten, mich mit Rat und Tat unterstützt haben und letztendlich auch dazu beigetragen haben, dass diese „Nischen“-Seiten entstanden ist!