Ein Leben ohne Pläne und Visionen ist garantiert kraftlos. Ziele, die wir uns im Leben stecken, sind wie ein Motor, der uns in Bewegung setzt. Doch trotz bester Absichten entwickelt sich das Leben allzu oft ganz anders und zwingt uns, die bisherigen Ziele aufzugeben.
Auch in der Natur gibt es solche Phänomene. Das wurde mir bei meinem letzten Waldspaziergang so richtig bewusst. Der Wald ist mir zum Gleichnis geworden für meine eigene Lebensgeschichte. Ich möchte dich auf meinen Spaziergang mitnehmen und einladen, die Parallelen in deinem eigenen Leben zu entdecken.
Ehrlich gesagt liebe ich Laubwälder mehr als Nadelwälder. Fichtenwälder sind so dunkel und unheimlich. Aber im Sommer ist das anders: da ist der kühle, nach Harz duftende Nadelwald richtig wohltuend. Eigentlich… denn der Borkenkäfer hat etwas geschafft, das für mich unvorstellbar war: er hat in meiner Heimat unendliche Waldflächen mit kerngesunden, kräftigen Fichten innerhalb kürzester Zeit quasi ausgerottet.
Zuerst waren es nur ein paar kleine Borkenkäfer, die hin und wieder ein paar schwache Fichten befielen. Doch die heißen, trockenen Sommer und milden Winter der letzten Jahre begünstigten die Vermehrung des Käfers und schwächten gleichzeitig die Bäume so, dass innerhalb von zwei Jahren riesige Fichtenflächen vernichtet wurden. Nicht nur kranke Bäume oder solche, die schlecht gepflegt waren, fielen ihm zum Opfer. Nein, man hat den Eindruck, dass der Borkenkäfer keine Ruhe gibt, bevor die letzte Fichte von der Bildfläche verschwunden ist.
Zunächst kämpfte der gesunde Wald noch mit aller Kraft dagegen an. Die Wälder dufteten so intensiv nach Harz, dass man denken konnte, man wäre in einem Parfumlabor. Doch die duften Bemühungen brachten nichts. Spätestens als in kürzester Zeit sämtliche Nadeln abfielen, war auch dem unerfahrensten Spaziergänger klar, dass es hier nichts mehr zu retten gab. Da, wo sich sonst ein dichtes, schützendes Nadeldach befand, wurde jetzt der Blick frei auf den Himmel.
Aus forstwirtschaftlicher Sicht ist das eine reine Katastrophe. Die riesigen Fichten-Monokulturen waren einst gepflanzt worden, weil sie eine lukrative Ernte versprachen. Jetzt würden sie wegen des Überangebots kaum noch was Wert sein. Das war doch alles so ganz anders geplant!
Die kranken Baum-Skelette einfach im Wald stehen lassen, ist keine Option. Sie müssen so schnell wie möglich abgeholzt werden, bevor noch weiterer Schaden entsteht. Also müssen Spezialisten her, die die Bäume fällen.
Geschulte Forstarbeiter kennen sich aus, haben gutes Werkzeug und arbeiten zielorientiert. Da geht es ganz schön zur Sache. Der ohrenbetäubende Krach der Erntemaschinen geht durch Mark und Bein. Der Wald sieht plötzlich aus wie Kriegsgebiet. Waldwege werden zum Morast und sind kaum noch passierbar. Die Gegend ist nicht wiederzuerkennen. Ich verliere die Orientierung. Meine einst liebgewonnenen Fleckchen Erde sind verschwunden.
Und da stehe ich nun mitten in diesem Chaos und fühle mich unendlich traurig. Ich trauere um meinen liebgewonnenen Wald, der auf einmal weg ist. Ich bin wütend auf die Borkenkäfer. Und auf die Waldarbeiter mit ihren Maschinen, die die Wege so in Mitleidenschaft ziehen, dass man fast im Morast stecken bleibt. Warum das alles? Was ist falsch gelaufen? Wer ist Schuld an der Misere? Und wie soll es bloß weitergehen?
Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und schaue mich um. Auf einmal spüre ich ein Gefühl von Freiheit. Da, wo es sonst dunkel und bedrohlich war, ist es auf einmal viel heller geworden. Außerdem erweitern die fehlenden Bäume meinen Horizont beträchtlich. Ich sehe mein Dorf aus einer ganz neuen Perspektive, die mir früher verwehrt war.
Kann es sein, dass die Fichtenwälder gar nicht so optimal waren, wie immer angenommen wurde? Genau genommen, gehören in unsere Breitengrade kaum Nadelbäume. Holt sich die Natur mit Hilfe des Borkenkäfers das zurück, was ihr eigentlich gehört?
Ich habe Mühe, mir vorzustellen, wie die Gegend in ein paar Jahren aussehen könnte. Wenn die Forstarbeiter ihre Arbeit beendet haben und alle Baumstämme abtransportiert wurden, werden die Wege wieder passierbar sein. Und klar ist, dass es nicht so trostlos bleiben wird wie jetzt.
Das beweisen mir die unzähligen jungen Fichten- und Buchensämlinge, die trotzig und lebenshungrig zwischen den Baumstümpfen emporwachsen. Ich entdecke Brombeergestrüpp und Gräser da, wo früher im Schatten der Fichten nur karger Waldboden war. Das macht mir Hoffnung. In der zerstörten Natur liegt ein riesiges Potential, das nur darauf wartet, endlich ans Licht zu kommen.
Klar, der Traum von einer lukrativen Ernte muss begraben werden. Der finanzielle Verlust ist und bleibt enorm. Aber davon geht die Welt nicht unter. Das Leben geht weiter. Es bringt nichts, in der Trauer um den zerstörten Wald stecken zu bleiben. Den bekomme ich nicht wieder. Es wäre auch Unsinn, wieder neue Fichten zu pflanzen, denn dann würde sich der Kreislauf vermutlich in ein paar Jahren genauso wiederholen. Schließlich hat man durch Erfahrung dazu gelernt. Jetzt geht es darum, das vorhandene Potential zu entdecken und neue Visionen zu entwickeln: solche, die ökonomisch und an die neuen Bedingungen angepasst sind. Und möglicherweise ist das Neue, das dann aufwächst, sogar besser und passender.
Mir kommt eine Bibelstelle in den Sinn, die Jesaja dem Volk Israel in der babylonischen Gefangenschaft zuruft:
Denkt nicht mehr daran, was war
Jesaja 43,18+19
und grübelt nicht mehr über das Vergangene.
Seht hin; ich mache etwas Neues;
schon keimt es auf.
Seht ihr es nicht?
Ich bahne einen Weg durch die Wüste
und lasse Flüsse in der Einöde entstehen.