Hallo Du,

dieser Brief gilt dir, wenn uns beide das gleiche Schicksal verbindet, einen schwulen Mann zu haben oder gehabt zu haben.

Übrigens ist die Tatsache, dass du diesen Brief liest, schon ein ganz mutiger Schritt! Wahrscheinlich hast du über einen langen Zeitraum nicht einmal gewagt, den Begriff „schwul“ oder „homosexuell“ überhaupt zu denken. Vielleicht hast du insgeheim gehofft, der Realität ein Schnippchen zu schlagen, indem du sie verdrängst. Aber leider ist es dir nicht gelungen. Sie hat dich in aller Härte eingeholt und hält dich jetzt in ihrem eisernen Würgegriff gefangen. Vielleicht denkst du, dass du der einzige Mensch auf der Welt bist, dem so etwas passiert. Weißt du eigentlich, dass es noch viele andere Frauen gibt, die in der gleichen Lage sind wie du? Du bist nicht allein!

Da du auf der „Nischen“-Seite gelandet bist, vermute ich, dass dir dein Glaube viel bedeutet. Wenn du Gott und die Bibel ernst nimmst, willst du dich nicht unbedingt mit den Ratschlägen zufrieden geben, die du auf Seiten der einschlägigen Selbsthilfegruppen findest. Obwohl es da durchaus hilfreiche Informationen gibt, ist deine Situation als Christin doch noch einmal anders, und du stellst wahrscheinlich andere Fragen.

Die Fragen, die wir uns alle stellen, egal mit welchem Hintergrund, könnten so lauten:

  • Warum muss ausgerechnet mir das passieren?
  • Bin ich wirklich so dumm und naiv, dass ich (vielleicht über Jahre hinweg) nichts mitbekommen habe?
  • War mein Mann schon immer schwul? Gab es Anzeichen schon vor der Ehe, die darauf hingedeutet hätten? Hat er mir das absichtlich verschwiegen?
  • Bin ich daran Schuld? Habe ich meinem Mann nicht gegeben, was er brauchte? Habe ich ihn durch mein Verhalten von mir weggetrieben?
  • Wie sieht die Zukunft aus? Kann es eine gemeinsame Zukunft geben? Will ich überhaupt mit so einem Mann weiter mein Leben verbringen?
  • Bin ich bereit weiterhin mit meinem Mann zu leben, der neben mir einen anderen hat?
  • Kann ich jemals wieder meinem Mann vertrauen?
  • Ist Homosexualität ein Trennungsgrund?

Und auch die Gefühle, die wir haben, sind bei uns allen gleich. Da gibt es die ganze Palette von Wut, Verzweiflung, Selbstmitleid und Hoffnungslosigkeit in sämtlichen Schattierungen. Unsere verletzte Persönlichkeit schreit nach Gerechtigkeit. Wir fühlen uns betrogen und ausgenutzt.

Doch wenn du es gewohnt bist, die Bibel als Maßstab für dein Leben zu nehmen, wird die Sache noch auswegloser. Du hast gehört, dass Homosexualität Sünde ist. Die Tatsache, dass dein Mann sich neben dir noch für andere interessiert, ist schon schlimm genug, aber dass diese Anderen auch noch Männer sind, bedeutet für dich einen doppelten Fluch.

  • Warum kann sich dein Mann dann nicht einfach davon frei machen? Kann er es nicht oder will er es nicht? Christus hat uns doch zur Freiheit berufen! Wie denkt dein Mann überhaupt darüber?
  • Kannst du Gemeinschaft haben mit einem Menschen, der „in Sünde lebt“? Musst du dich nicht davon distanzieren?
  • Aber darfst du dich überhaupt von deinem Mann trennen, wo für dich doch die Ehe heilig ist und ihr Euch Treue versprochen habt bis zum Lebensende? Wie gehst du mit dem Satz um „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden“?
  • Warum hat Gott dich nicht bewahrt vor dieser Ehe? War euer Weg, den ihr im Glauben begonnen habt, falsch? Oder ist dein Mann gar nicht wirklich gläubig?
  • Warum hat Gott – trotzdem – so viel Segen in eure Ehe gelegt? Seid ihr nicht eigentlich disqualifiziert, wenn es um den Dienst für Gott geht?
  • Dieses ganze Eheleben scheint dir total verlogen. In eurer Umgebung, Nachbarschaft, Gemeinde seid ihr vielleicht immer noch das perfekte Ehepaar und Vorbild, aber du weißt genau, dass das Ganze nur eine Fassade ist, die jeden Moment zusammenstürzen kann. Und dann??? Welche Schande bringt ihr auf den Ruf der Christen und damit auf Christus selber? Ihr seid doch berufen, als Licht in der Welt zu leuchten!

Wahrscheinlich sind es noch viel mehr Fragen, um die du immer wieder kreist, und auf die du keine Antworten hast. Und es gibt auch keine schnellen Antworten auf diese Fragen. Es geht hier um ganz existenzielle Fragen! Und deshalb ist es wichtig, dass du Hilfe in Anspruch nimmst. Auch wenn du dich schämst, für deinen Mann und für dich. Auch wenn du Angst hast vor der Verurteilung anderer. Auch wenn du deinen Mann nicht bloßstellen willst, denn es könnte ja sein Ansehen und seine ganze berufliche Zukunft zerstören. Auch wenn du nicht zulassen willst, dass eure Beziehung völlig in die Brüche geht, weil du deinen Mann – immer noch! – liebst.

Welche Möglichkeiten hast du, mit deiner Situation und deinem Mann umzugehen?

  • Du kannst die Tatsachen ignorieren.
    Nach dem Motto: es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das kann eine Zeit lang der bequemste Weg sein, aber irgendwann gehst du daran zugrunde. Außerdem ist dieses Verhalten scheinheilig und verlogen.
  • Du kannst hoffen, dass alles wieder so wird, wie es früher war.
    Dieser Traum wird nicht in Erfüllung gehen. Du kannst an der Situation nichts ändern. Du wirst deinen Mann nicht aus seiner Homosexualität herausholen können. Genauso wenig wie du ihn hineingebracht hast. Du bist nicht schuld an seiner Homosexualität!!! Deshalb bringt es auch nichts, wenn du dir Vorwürfe machst und die Schuld bei dir suchst. Damit fügst du dir nur selber noch mehr Leid zu.
  • Du kannst dich distanzieren.
    Vielleicht ist das sogar im Moment ganz wichtig für dich, um nicht unter die Räder zu kommen.
  • Du kannst das akzeptieren, was du nicht ändern kannst.
    Dafür müsstest du aber deine bisherigen Werte zu dem Thema, die sich doch vermeintlich auf die Bibel gründen, über Bord werfen. Erlaube dir hier bitte eine wichtige Frage: wenn du die Homosexualität deines Mannes akzeptierst, stellst du dann wirklich die Bibel in Frage oder nur dein Verständnis der Bibel?

Homosexualität zu verstehen, ist schwierig, vor allem dann, wenn man durch die christliche Sozialisation in einer bestimmten Richtung geprägt ist. Auch wenn du dich innerlich noch dagegen sträubst, mach ich dir doch Mut: besorge dir Informationen!Im Zeitalter des Internets dürfte das kein Problem sein. Unter „Nützliches“ findest du ein paar Links. Mag sein, dass du manches zunächst mit Widerwillen liest, aber es hilft dir auf jeden Fall, die landläufigen Meinungen über Homosexualität zu überdenken. Auf jeden Fall wird es deinen Blick weiten. Und es wäre schön, wenn du deinen Mann mit seiner Homosexualität annehmen könntest.

Bei aller Empathie für deinen Mann vergiss aber nicht, dich selbst ernst zu nehmen! Vor allem dann, wenn du schon über einen langen Zeitraum Verhaltensmuster eingeübt hast, die letztendlich deinen Mann in Schutz genommen haben, kann das ein langer Lernprozess sein, dich mit deinen Bedürfnissen und Gefühlen wieder selbst wahrzunehmen. Unter Umständen solltest du für diesen Prozess die Hilfe eines Seelsorgers, Coachs oder Psychotherapeuten in Anspruch nehmen. Auch der Austausch mit anderen betroffenen Frauen kann eine Hilfe sein. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen!

Bedenke, dass deine Situation extrem belastend ist und du viel zu wichtig und wertvoll bist, um daran zugrunde zu gehen. Es kann lange dauern, bis die Verletzungen anfangen zu heilen, das Selbstvertrauen wiedergewonnen wird und du Mut hast, wieder in die Zukunft zu schauen, aber mit Gottes Hilfe ist es möglich, dass dein Leben wieder Sinn macht.

Liebe ……., ich würde mich freuen, wenn dir der Brief eine kleine Hilfe sein kann. Und wenn du das Bedürfnis hast, einmal mit einem Menschen zu reden, dann darfst du gerne Kontakt mit mir aufnehmen.

Sei dem Segen Gottes anbefohlen!
Sigrid