„In Krisenzeiten gibt der Glaube den nötigen Halt und ist eine sehr wertvolle Hilfe.“ Diesen Satz hört man immer wieder. Ich habe ihn selbst oft genug gebraucht. Inzwischen gehe ich mit diesem Satz vorsichtiger um, denn aus eigener Erfahrung weiß ich, dass gerade der Glaube – oder besser gesagt, meine Art zu glauben, also meine Frömmigkeit – auch ganz schön hinderlich werden kann.

Als mir mein Leben plötzlich so richtig um die Ohren flog und ich mich wie ein Schiffbrüchiger auf stürmischer See fühlte, blieb von dem festen Halt des Glaubens auf einmal nur noch ein Strohhalm übrig, an dem ich mich festklammerte, während ich ums Überleben kämpfte. Viele Überzeugungen, die mir bisher in Stein gemeißelt schienen, wurden auf einmal schwer wie Mühlsteine und zogen mich in den Abgrund. Ich stand vor einem Dilemma: entweder würde ich mich selbst verlieren, oder aber meinen bisherigen Glauben. Beides zum damaligen Zeitpunkt eine Horrorvorstellung! Es schien mir unmöglich, meine Fragen in Einklang mit meinem Glauben zu bringen. Und so habe ich mir – mal abgesehen von meinem „Strohhalm“ – manches mal gewünscht, keinem Glauben und keiner christlichen Ethik verpflichtet zu sein.

Der Strohhalm, der mir – Gott sei Dank! – blieb, war mein Urvertrauen in einen allmächtigen, unendlichen, unfassbaren, liebenden und erlösenden Gott, dem Beziehung mit mir wichtig ist; also die Grundlagen meines christlichen Glaubens überhaupt. Was mir dagegen erhebliche Mühe machte, waren meine Überzeugungen und Werte (in der Psychologie spricht man von Glaubenssätzen), die ich seit meiner Kindheit durch eigene Erfahrungen entwickelt oder aus Familie und Gemeinde übernommen und nicht weiter hinterfragt hatte. Gerade weil viele davon über lange Zeit hilfreich und gut waren, war es für mich undenkbar, dass sie unter anderen Voraussetzungen ihre Allgemeingültigkeit verlieren könnten.

Kurz gesagt: ich hatte nicht gelernt, zwischen Glauben und Glaubenssätzen zu differenzieren. Meine Glaubenssätze basieren auf meinen ganz persönlichen „Wahrheiten“, also das, was ich für-wahr-halte. Und das ist relativ. Dagegen steht die göttliche Wahrheit, die sich in Jesus Christus offenbart, der von sich selbst sagt, dass er die Wahrheit ist. Und diese Wahrheit ist absolut. Sie zeigt uns Menschen das Wesen Gottes, den Weg zu ihm und die Maßstäbe für unser Leben.

Hier einmal ein paar wenige der Glaubenssätze, die mich nahezu handlungsunfähig machten:

  • Alle Begriffe, die mit „Selbst-“ beginnen, sind egoistisch und gehen nicht einher mit der biblischen Anweisung, den anderen höher zu achten als sich selbst.
  • Die Frau soll sich dem Mann unterordnen und schweigen.
  • Die Ehe ist heilig. Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.
  • Bevor du den „Splitter“ beim Gegenüber thematisierst, bearbeite zuerst deinen eigenen „Balken“.
  • Ich darf keine Fehler machen.
  • Die Liebe erträgt alles.

All diesen Glaubenssätzen gemeinsam war, dass sie mich in meiner Lage als Frau eines schwulen Mannes klein und schuldig machten, einengten, einschüchterten, lähmten. Es dauerte lange, bis ich merkte, wie sehr ich von diesen Sätzen geprägt war und dabei andere Sätze, die von Freiheit, Weite, Größe, Stärke, Selbstliebe, Wert sprachen, schlichtweg übersehen hatte.

Durch diese Entwicklung habe ich sehr wohl viele meiner alten Glaubenssätze verloren, aber meinen grundlegenden Glauben habe ich nicht verloren. Der ist freilich anders geworden: frischer, freier, belastbarer, authentischer. Mit dem kann ich gut leben!

Meine neuen, hilfreicheren Glaubenssätze….

  • sind lebensbejahend, und zwar auch für mich selbst! Damit will ich keinesfalls für rücksichtslosen Egoismus plädieren. Aber es ist falsch verstandene Nächstenliebe, wenn andere auf meine Kosten ihr Leben leben. Auch ich bin es wert, mein Leben entsprechend meiner Werte und Ziele leben zu dürfen.
  • fördern die gesunde Selbstwertschätzung. Selbstliebe gehört zum größten Gebot: „du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben… und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Matthäus 22,37-39). Die meisten Begriffe mit „Selbst-“ haben ihre Berechtigung, es sei denn, sie würden krankhaft.
  • passen zu meinem persönlichen Glauben und zu meiner Situation, unabhängig von den Überzeugungen anderer. Kollektivglaube hatte schon oft verheerende Auswirkungen, im Kleinen wie im Großen. Ich bin nicht verpflichtet, jemand anderem als Gott gegenüber Rechenschaft über mein Handeln und meinen Glauben abzulegen, denn „wenn Gott für uns ist, wer kann da noch gegen uns sein?“ (Römer 8,31)
  • gründen sich nicht auf Angst, weder vor Gott noch vor Menschen, sondern rechnen mit einem Gott, dem Erlösung von Ewigkeit her schon ein Herzensanliegen war.
  • fordern keinen Perfektionismus. In einer so verfahrenen Situation sind Fehler unumgänglich. Es ist auch nicht meine Verantwortung, nach außen hin ein perfektes Bild der Ehe aufrecht zu erhalten, wenn das gar nicht der Realität entspricht. Fassaden einzureißen kann auch sehr erleichternd sein nach dem Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich´s völlig ungeniert“
  • sind nicht unumstößlich. Die Zeiten ändern sich – die Glaubenssätze auch!

Wohlgemerkt, es handelt sich hier um meine persönlichen Erfahrung mit Glaubenssätzen. Jemand anderes macht garantiert andere, ganz individuelle Erfahrungen. Möglicherweise hat manch einer überhaupt kein Problem damit. Aber diejenigen, denen in der Krise ihr Glaube in die Quere kommt, möchte ich dazu ermutigen, nicht gleich den Glauben über Bord zu werfen, sondern nur die Glaubenssätze. Es ist eine große Chance, wenn eine Krise dazu anregt, diese Sätze einmal auf ihre Sturmtauglichkeit hin zu durchleuchten: woher kommen die Glaubenssätze; sind sie wirklich so „wahr“ wie ich dachte, oder hindern sie mich unter den veränderten Umständen daran, mich weiter zu entwickeln? Dann hat die Krise das Potential, das Lebensschiff wieder in Bewegung zu setzen und aus einem festgefahrenen Glauben einen gesunden, lebendigen und hilfreichen Glauben zu machen.