Im vorigen Blog ging es um die Phasen der Krisenbewältigung. Dabei haben wir den Idealfall betrachtet, in dem es am Ende der Krise wieder aufwärts geht. Das muss aber nicht zwangsläufig so sein. Es gibt genügend Gegenbeispiele von verbitterten, verzweifelten und hoffnungslosen Menschen, die an ihrer persönlichen Lebenskrise zerbrochen sind. Der Verlauf einer Krise hängt entscheidend von den sogenannten Resilienzfaktoren ab, also davon, welche Kraftquellen zur Verfügung stehen, die Krise zu bewältigen und sogar als Entwicklung zu nutzen. Auch wenn jeder Mensch diesbezüglich von Natur aus unterschiedliche Startbedingungen hat, ist es doch möglich, ungeahnte Ressourcen zu nutzen, wenn man sie sich bewusst macht und den Umgang damit trainiert.

Resilienz - Baum 1

Mir persönlich hat ein Baum die Augen dafür geöffnet, was es heißt, widrigste Umstände zu überstehen. Als ich ihn bei einem Waldspaziergang entdeckte, steckte ich gerade am Anfang meiner Krise, und der Begriff Resilienz war noch ein Fremdwort für mich. Ich interpretierte es für mich als „Segen“, im Sinne von „Trotz-dem wachsen“. Auf den ersten Blick schien besagter Baum, eine mittelalte Buche, mit drei Halsreifen geschmückt zu sein. Erst bei näherem Hinsehen entdeckte ich, dass es kein Schmuck, sondern Wundholz ist, das der Baum gebildet hat. Die Ursachen dafür waren gerade noch zu entdecken: blaue Kunststoffschnüre, mit denen wohl vor vielen Jahren einmal etwas an dem Baum befestigt und anschließend vergessen wurde. Als der Stamm dicker wurde, die Schnüre aber nicht nachgaben, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Fremdkörper mit neuer Rinde zu überwallen.

Für mich wurde dieser Baum zum Schlüsselerlebnis. Ich hatte den Eindruck, dass er meinen Schmerz nachempfinden konnte. War es ihm nicht genauso ergangen wie mir? Da gab es etwas Störendes in unserem unmittelbaren Umfeld, das wir zunächst gut ignorieren konnten, das im Laufe der Zeit aber immer bedrohender, einengender und schmerzhafter wurde. Wir wären es gerne los geworden, haben uns daran aufgerieben, und es drohte, uns allen Lebenssaft zu rauben. Doch Jammern ist keine Lösung! „Mein“ Baum hat mir eindrücklich gezeigt, dass trotz allem noch ganz viel möglich ist und mich damit enorm motiviert, mich nicht meinem Schicksal einfach zu ergeben. Er steht gleichberechtigt inmitten anderer Buchen, streckt seine Krone der Sonne entgegen, und in jedem Frühling entwickeln sich neue Knospen. Eigentlich ein Baum wie jeder andere und doch mit einer ganz eigenen, besonderen Geschichte, deren Spuren ein Leben lang sichtbar bleiben.

Welche Lektionen habe ich bei meinem Anschauungsunterricht im Wald gelernt?

  1. Es gibt Dinge, die nicht zu verändern sind, und dazu gehört die Homosexualität meines Mannes. Lange Zeit habe ich diese Tatsache verdrängt, dann dagegen rebelliert, weil ich es einfach nicht wahrhaben wollte. All das hat mich unnötig viel Kraft gekostet. Das Unveränderbare zu akzeptieren ist zwar schmerzhaft, aber grundlegend. Erst dann wird es möglich, unrealistische Träume zu begraben und die Gegebenheiten so wie sie sind, als Teil des Lebens anzuerkennen.
  2. Ich bin meinem Schicksal nicht willkürlich ausgeliefert, auch wenn es sich noch so anfühlt. Es liegt an mir, ob ich Opfer der Umstände bleibe und mich selbst bemitleide, oder stattdessen die Rolle des Akteurs einnehme. In gewisser Weise hat die Opferrolle ja auch ihre Vorteile, weil ich andere für mein Schicksal verantwortlich machen kann. Aber auf Dauer hindert mich diese Einstellung am persönlichen Wachstum. Und ist es nicht ein tiefstes Bedürfnis eines jeden Menschen, sein Leben kreativ zu gestalten und eigene Ziele zu entwickeln? Das brauche ich mir nicht nehmen zu lassen – nicht durch diese Geschichte! Ich darf meine Hilflosigkeit, Angst und Bequemlichkeit überwinden und heute aktiv anfangen, Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.
  3. Ich bin nicht allein! Die Gefahr ist groß, sich aus Angst und Scham von Familie und Freunden zu distanzieren. Oft fehlt auch die Kraft, Beziehungen aufrecht zu erhalten. Doch die soziale Integration ist eine wichtige Ressource, nicht nur wenn es um tatkräftige Hilfe geht, sondern besonders auch, um die nötige Wertschätzung zu bekommen. Ich kenne keine Frau in dieser Situation, deren Selbstwert nicht empfindlich angekratzt ist! Wie wichtig ist deshalb die Gemeinschaft mit Menschen, die mir guttun, die mich achten und schätzen, wenn ich mich selbst zutiefst in Frage stelle. Auch der Kontakt und Austausch mit anderen Betroffenen ist essenziell wichtig und wird durchweg als wohltuende Erleichterung empfunden. Menschen, die eine ganz ähnliche Geschichte durchlebt und „überlebt“ haben, können zu Vorbildern werden und entscheidende Impulse geben.
  4. Mein Glaube ist in Krisenzeiten wie die Wurzel eines Baumes: er gibt Halt, während der Sturm wütet und versorgt mich mit der nötigen Kraft. Allerdings kann er auch hinderlich sein, wenn es kein gesunder Glaube ist, sondern unflexible, „verholzte“ Tradition. Dann schafft der Sturm es unter Umständen tatsächlich, mich zu entwurzeln. Da dieses Thema (je nach gemeindlicher Prägung) recht zentral ist, soll es dazu noch einen Extra-Blog geben.
  5. Eine enorme Hilfe ist es, wenn ich in meinem Schicksal einen Sinn erkennen kann. Selbst wenn er an den Haaren herbeigezogen erscheint und für Außenstehende überhaupt nicht nachzuvollziehen ist, lässt er mich die momentane Situation positiver sehen. Außerdem sorgt er für das nötige Durchhaltevermögen, wenn mit dem Sinn auch ein Ziel verbunden ist.
  6. Optimismus und eine positive Grundeinstellung sind wie das Sonnenlicht für den Baum. Sie regen das Wachstum an und geben mir die Richtung vor. Sie erleichtern mir, mich in Bewegung zu setzen. Und wenn ich von Natur aus eher ein Pessimist bin? Dann lautet die gute Botschaft: Optimismus ist durch konsequente Gedankenhygiene ein Stück weit erlernbar!

Im Gespräch mit anderen betroffenen Partnerinnen schwuler Männer hat sich immer wieder bestätigt, dass offensichtlich gerade diese Resilienzkennzeichen in unserer speziellen Situation besonders hilfreich sind.

Übrigens: das Gegenteil von Resilienz ist Verwundbarkeit. Eine spannende Frage ist, wie viel Einfluss ich selbst darauf habe. Bin ich resilient, wenn mich so schnell nichts verwunden kann, oder wenn ich nicht zulasse (aktiv!), dass mich etwas oder jemand verwundet? Im Blick auf die oben genannten Resilienzkennzeichen ist wohl ziemlich offensichtlich, dass der wichtigste Part bei mir selbst liegt.

Wenn ich „meinen“ Baum betrachte, kommt mir noch etwas in den Sinn. Er musste zwar einiges aushalten, aber sein „Überwindungsprogramm“ hat ihn überleben lassen und ihm sogar besonderen Schmuck verliehen. Wenn ich jetzt an all die Frauen schwuler Männer denke, die ich inzwischen kennen gelernt habe, sehe ich vor mir viele interessante, liebenswürdige, gereifte und starke Persönlichkeiten: jede Einzelne eine kostbare Perle!