Wer erstmals mit Homosexualität im näheren Umfeld konfrontiert wird, ist meist total überfordert. Vor allem dann, wenn das Thema bisher tabu war, gibt es nur ein diffuses Bild, geprägt von den Meinungen anderer, die aber oft auch nur vom grünen Tisch reden. Im Fall der eigenen Mitbetroffenheit wird schnell klar, dass die Thematik nicht mal eben mit ein, zwei frommen Sätzen abgetan werden kann. Denn „das Problem“ ist in diesem Fall ein Mensch, der uns wichtig ist. Was also sollten wir wissen, um mit „dem Problem“ angemessen umgehen zu können, es zu verstehen?

Eine Sache gleich vorweg: Homosexualität ist letztendlich nicht zu verstehen von jemandem, der nicht selbst homosexuell ist (übrigens tun sich gleichgeschlechtlich empfindende Menschen genauso schwer, Heterosexualität zu verstehen…). Aber ist Sexualität – in welcher Form auch immer – überhaupt zu verstehen? Oder kann man sie nur erfahren? Schon in der Bibel kommt der Weise Agur zu dem Schluss, dass die Liebe zwischen Mann und Frau für ihn unbegreiflich ist (Sprüche 30,18+19). Wie viel unbegreiflicher ist da die gleichgeschlechtliche Liebe in einem heteronormativem Umfeld. Wir täten gut daran, uns Agur zum Vorbild zu nehmen und zu unserem Nicht-Begreifen zu stehen.

Aber stattdessen gibt es so manche Ansichten, die sich immer noch hartnäckig halten. Eine erste, irrige Annahme ist, dass man sich quasi für die Homosexualität entscheidet. Das ist genauso unsinnig wie eine Entscheidung zur Heterosexualität. Es handelt sich in beiden Fällen um eine in der Regel unveränderbare Identität. Seltene Fälle von „Heilung“ zählen zu den absoluten Ausnahmen. Inwiefern äußere Gegebenheiten einen Einfluss auf die Entwicklung der geschlechtlichen Neigung haben, darüber streiten sich die Fachleute nach wie vor. Also brauchen wir als Laien auch nicht nach Gründen suchen. Das ist eine gute Nachricht für Eltern und Partner: wir sind nie und nimmer Schuld daran, dass unser Kind / Partner homosexuell (geworden) ist!!! Ich betone das mit Nachdruck, weil ich immer wieder erlebe, wie sich Menschen mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen quälen, die unnötig sind.

Des weiteren gibt es immer noch manche frommen Kreise, in denen Homosexualität mit „schändlicher Lust“ gleichgesetzt wird. Ja, es mag solche Fälle geben – genauso wie in Heterobeziehungen auch! Aber hier wie dort gibt es auch genügend Fälle von ernsthaften, treuen Beziehungen.

Diese „Vorurteile“ beginnen oft erst dann zu bröckeln, wenn Homosexualität einen Namen und ein Gesicht bekommt. Dann entsteht der Wunsch, den anderen zu verstehen. Aber was tun, wenn es doch nicht zu begreifen ist? Dann kann es hilfreich sein, sich durch die Betrachtung ähnlicher Phänomene ganz vorsichtig an das Unverständliche heranzutasten. Die Linkshändigkeit könnte ein solches Hilfsmittel sein. Es gibt da erstaunliche Parallelen:

  • Laut Umfrage aus dem Jahr 2016 bezeichneten sich 7,4% der Deutschen als LGBT*, also nicht der heterosexuellen Norm entsprechend (https://de.statista.com/themen/4641/lgbt/). Auch wenn Linkshändigkeit in einer Größenordnung von 10-15% angegeben wird, sind beide Personengruppen doch deutlich in der Minderheit. (LGBT* ist die Abkürzung aus dem Englischen für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender)
  • Es gab die verschiedensten Thesen für die Ursache von Linkshändigkeit, aber wirklich nachgewiesen ist keine davon.
  • Auch Linkshänder haben dunkle Zeiten in der Geschichte erlebt: rothaarige, linkshändige Frauen wurden im Mittelalter als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Parallele zu Homosexuellen, die im dritten Reich ins Konzentrationslager geschickt wurden, liegt auf der Hand.
  • Noch in meiner Kindheit gab es Diskussionen, ob man Linkshänder umerziehen sollte. Glücklicherweise weiß man inzwischen, dass man damit viel Schaden angerichtet hat. Ja klar, ein Linkshänder kann mehr schlecht als recht lernen, mit rechts zu schreiben, aber ein begnadeter Maler wird er wohl nie werden, weil es nicht seiner Natur entspricht und er sich deshalb schwer mit rechts ausdrücken kann – es sei denn, er malt mit Links, so wie beispielsweise Picasso oder Michelangelo.
  • Übrigens, was kaum jemand beachtet: auch in der Bibel wird von Linkshändern berichtet, und die schneiden sogar richtig gut ab. Im Stamm Benjamin gab es 700 Linkshänder, die im Umgang mit der Schleuder so geschickt waren, dass sie „ein Haar treffen konnten ohne zu verfehlen“ (Richter 20,16). Linkshändige Krieger waren sicher auch deshalb so erfolgreich, weil der Feind sie nicht einschätzen konnte.

Was können wir aus diesem Beispiel lernen? Wir könnten zumindest den Gedanken zulassen, dass Homosexualität, so wie auch die Linkshändigkeit, gar nicht so abnormal und ungewöhnlich und deshalb eine „Sonderbehandlung“ unangemessen ist. Vielleicht verlieren wir damit die Scheu und Angst vor dem Unbegreiflichen und beginnen, mit ehrlichem Interesse das Gespräch mit denen zu suchen, die mehr davon verstehen als wir selbst. Und wäre es nicht sogar denkbar, dass auch Homosexuelle – so wie die linkshändigen Krieger – in einem bestimmten Bereich besonders segensreich sein können, eben weil sie so überraschend anders sind?