Das ist ja unerhört! Mal ehrlich: hast du nicht auch diesen Satz schon voller Entrüstung gesagt (oder doch nur gedacht) in Bezug auf homosexuelle Menschen? Oder zumindest schon oft gehört, besonders im christlichen Umfeld? Da wird es zum Skandal, wenn sich ein Kind aus einer Vorzeigefamilie – unter Umständen erst im Erwachsenenalter – plötzlich outet. Und das sind in den letzten Jahren bemerkenswerterweise unerhört viele und scheinen immer mehr zu werden. Dann ist vom Zeitgeist die Rede, der auch vor den bibeltreuen Gemeinden nicht Halt macht. Aber in deiner Familie ist ja noch alles in Ordnung. Da kommt – Gott sein Dank! – ja so was Unerhörtes nicht vor…

Und wenn doch? Wenn es auf einmal Anzeichen gibt, dass dein eigenes Kind gleichgeschlechtlich empfindet? Wie gerne wird dann über dieses unerhörte Thema die Decke des Schweigens ausgebreitet! Aus Scham, weil du dich an dein eigenes mehr oder weniger lautstark verkündetes Urteil erinnerst. Aus Angst, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, und weil du genau weißt, mit welchem Konfliktpotential du es zu tun hast. Aus Hilflosigkeit, weil du keine Ahnung hast, wie du mit diesem Thema umgehen sollst. Aus Feinfühligkeit, weil du deinem Kind nicht zu nahe treten möchtest. Was auch immer deine Gründe sein mögen, deine Sprachlosigkeit endet im Tabu. „Darüber spricht man nicht“ ist der unausgesprochene Satz, der in der Luft hängt und jegliche Möglichkeit zur fairen Auseinandersetzung im Keim erstickt.

Die Tabu-Devise „nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ ist keine böse Absicht, sondern genau genommen Selbstschutz. Schön wär´s, wenn damit alles gut wäre. Wenn das, worüber nicht gesprochen wird, was wir nicht hören und ansehen möchten, auch nicht vorhanden wäre.

Es gibt sie aber doch: die andere unerhörte Seite der Medaille. Im Schweigen hallt das Unerhört!-Echo nach. Dein Kind hat vielleicht noch im Ohr, dass seine sexuelle Orientierung eine Schande ist; dass es dagegen kämpfen muss, wenn es vor Gott und den Menschen gut dastehen will. Und wie viele seiner Gebete um Befreiung blieben unerhört, obwohl die große Befreiung durch den Glauben immer wieder deklariert wird? Welche innere Zerrissenheit und Zweifel muss es alleine durchstehen, weil seine Stimme keiner hören will? Weil es Angst hat, von der Familie und von Gott verstoßen zu werden? Allzu oft verschafft sich der unerhörte Schmerz Gehör, indem psychische oder physische Störungen zum nonverbalen Hilfeschrei werden. Diese verheerenden Folgen des Schweigens sind den Wenigsten bewusst.

Wohl den Kindern, die in ihrer Familie offen darüber sprechen dürfen, wenn ihnen ihr gleichgeschlechtliches Empfinden bewusst wird. Wohl den Eltern, die den Mut haben, für ihr Kind da zu sein, wenn es sich outet. Die nicht betreten schweigen, sondern das Gespräch suchen. Die vorurteilsfrei zuhören können, ohne zu werten. Die sich bemühen zu verstehen, was sie doch nicht verstehen können. Die nicht das Christsein ihres Kindes in Frage stellen, sondern in ihm ein bedingungslos geliebtes und gesegnetes Gotteskind sehen. Die ihr Kind dennoch oder gerade deshalb mit Augen der Liebe anschauen. An dieser Stelle sind übrigens die Mütter in besonderer Weise gefragt, weil sie sich hiermit von Natur aus viel leichter tun als die Väter. Liebe Mütter: nehmt eure Verantwortung wahr und wagt mutige Schritte auf euer Kind zu! Versteckt euch nicht hinter euren Männern, weder aus Bequemlichkeit noch aus falsch verstandener Unterordnung. Es könnte zur unerhörten Bereicherung für eure Beziehungen werden, wenn ihr anfangt, auf die unerhörten Stimmen derer zu hören, die ein in den Augen vieler Menschen unerhört anstößiges Leben führen.