Dieser Beitrag richtet sich speziell an Partnerinnen schwuler Männer. Fast alle Betroffenen berichten davon, dass sie im Zusammenhang mit dem Outing des Partners sich selbst massiv in Frage stellen und verlernen, ihren eigenen Gefühlen zu trauen.

Viele Frauen sehen sich meist sehr plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die sie nicht verstehen können. Die Gefühle werden hierbei so übermächtig, dass sie kaum auszuhalten sind. Um die Situation trotzdem zu „überleben“, setzt ein Phänomen ein, bei dem die aufbrechenden Emotionen abgespalten werden. Verstand und Gefühl – Kopf und Bauch – fungieren nicht mehr als Einheit. Stattdessen versucht meist der Kopf komplett das Kommando zu übernehmen, was zum berühmten Hamsterrad oder Kopfkino führt, weil es zu diesem Zeitpunkt schlichtweg unmöglich ist, Erklärungen und Antworten zu finden. Es bleibt also beim immerwährenden Kreisen der Gedanken um immer dieselben Fragen. Dazu kommt, dass viele Frauen auch in ihrer Körperlichkeit total verunsichert sind (zu unattraktiv, falsche Figur, nicht begehrenswert…) und die „Schuld“ bei sich suchen. Mit dem Ergebnis, dass auch der Bezug zum eigenen Körper einen Knacks bekommt. Das Resultat ist oft ein auf reines Funktionieren degradierter Alltag, was nicht selten im Burnout oder der Depression mündet.

Dabei ist uns Frauen oft nicht klar, dass ein nicht unerheblicher Anteil an diesem Dilemma dem geschuldet ist, dass wir mit uns selbst nicht mehr harmonieren, das heißt: unser Verstand, unser Körper und unsere Emotionen haben den Bezug zueinander verloren. Das lässt den Umkehrschluss zu, dass der Weg raus aus dem Hamsterrad besser gelingen kann, wenn wir lernen, uns wieder als Ganzes zu achten, zu lieben und Wert zu schätzen.

Im Folgenden habe ich ein Gespräch mit meinem verlorengegangenen Ich aufgezeichnet, das den Prozess des sich Verlierens und neu Wiederfindens etwas verdeutlicht:

Mein geliebtes Ich,

früher wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, dich so anzureden. Das klingt irgendwie selbstverliebt und egoistisch, und Egoisten hatten in meinem Umfeld keinen guten Ruf. Ich schenkte dir also nicht allzu viel Aufmerksamkeit, weder dem äußeren Erscheinungsbild noch irgendwelchen Gefühlslagen. Denn das wurde mir von klein auf vermittelt, dass nicht äußere sondern innere Werte zählen, und dass Emotionen nicht zu viel Beachtung bekommen sollten. Gefühle zeigen, das war was für Schwächlinge. Und bloß nicht von Gefühlen leiten lassen! Entscheidungen waren immer Sache des Verstandes, wenn sie Hand und Fuß haben sollten.

Also habe ich dich, mein Ich, immer etwas kurz gehalten. Aber ich glaube, du hast oft selbst dafür gesorgt, dass es dir gut ging. Das hast du so geschickt angestellt, dass ich es gar nicht merkte. Zum Beispiel hast du Freude an der Natur und Begeisterung für Kreativität und Musik in mein Herz gelegt. Wenn es um diese Themen ging, dann war ich ganz bei dir. Dann ging es uns beiden richtig gut. Im Großen und Ganzen denke ich, dass wir es ganz gut miteinander hatten.

Spannend wurde es für dich, als ich die Beziehung mit meinem Mann einging, denn da waren wir auf einmal zu dritt. In mancherlei Hinsicht hast du davon profitiert, weil ich erst durch meinen Mann vieles an dir schätzen und lieben lernte. Aber natürlich gab es auch die ein oder andere Spannung, denn Beziehung ohne Hingabe funktioniert nicht, und ein großes Stück Selbstverleugnung gehört einfach dazu, wenn man Beziehung leben will. Auch als Mutter musste ich dich immer mal wieder hintenan stellen. Trotzdem kamst du nicht wirklich zu kurz, weil sich mit der Hingabe auch eine tiefe Befriedigung einstellte, die deinen Hunger stillte. Sicher hätten wir es auf diese Weise noch eine lange Zeit gut miteinander ausgehalten.

Nur hin und wieder, meistens in der Nacht, wenn ich einsam in meinem Bett lag, dann konntest du sehr unangenehm werden. Du fordertest von mir mehr Aufmerksamkeit, meldetest deine Bedürfnisse an und gabst mir Ahnungen von dem, was nicht so war, wie ich es mir einredete. Ja, dann packte mich für einen Moment das kalte Grausen, ich vergrub mein Gesicht im Kissen und heulte mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen schaltete ich meinen Kopf ein, bastelte mir logische Erklärungen zurecht und zwang dich zum Schweigen. Das hätte ich nicht tun sollen, denn heute weiß ich, dass du recht hattest.

Übrigens wusstest du schon Jahre vor mir, dass mein Mann schwul ist, aber ich wollte es dir nicht glauben. Ich habe es erst geglaubt, als ich Fakten vorliegen hatte. Du hast getobt, hast die Emotionen hochkochen lassen, wolltest mich beschützen. Aber wieder habe ich dich zum Schweigen gebracht. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass die Beziehung zu meinem Mann am Ende war. Ich wollte es mir und am liebsten der ganzen Welt beweisen, dass ich das schaffe, wenn ich mich nur selbst verleugne. Du wusstest, dass das nicht funktionieren würde. Und weil du mir immer wieder dazwischen redetest, habe ich den Kontakt zu dir abgebrochen. Ich beschloss, alleine zu kämpfen. Damit habe ich das Wertvollste aufgegeben, das ich besaß: Dich, mein Ich.

Und du? Dir blieb nichts anderes übrig, als dich zurückzuziehen und mich mir selbst zu überlassen. Die Folgen, die das für mich hatte, bemerkte ich erst im Laufe von Monaten: in meinem Kampf verbrauchte ich jede Menge Energie, aber es kam keine mehr nach. Ich funktionierte nur noch auf niedrigster Sparflamme. Und wo war sie geblieben, die Kreativität, Begeisterung und Freude, die meine Markenzeichen waren? Musik rührte mich nicht mehr an. Ich hetzte stundenlang durch den Wald, konnte aber seine Schönheit nicht mehr sehen, riechen, spüren und hören. Da musste ich mit Schrecken feststellen: das bin nicht mehr ich. Bei dem Versuch, die Beziehung zu meinem Mann zu retten, habe ich mich selbst verloren! Nicht nur, dass ich keinen Zugang mehr zu meinen Gefühlen hatte, ich wusste auch nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Wer bin ich losgelöst von meinem Mann und unserer Geschichte? Wer bin ich als Frau? Wer bin ich ohne meine Kinder, mein soziales Umfeld, meinen Beruf, meine Hobbys? All das brach ja nach und nach weg. Es fühlte sich so an, als wenn ich mich in Nichts auflösen würde.

Aber in diesem Nichts fing ich an, dich wiederzufinden. Nicht von heute auf morgen, sondern über Wochen und Monate. Es war ein heilsames Erwachen, als mir bewusst wurde, wie wenig mein jetziges Bild noch mit dem früheren übereinstimmte. Es kam mir alles verlogen und verbogen vor. Genau an diesem Punkt bahntest du dir den Weg zurück in mein Leben. Du hast dich nicht aufgedrängt, kamst ganz zaghaft und leise, aber umso wirkungsvoller: dein ungebrochener Überlebenswille weckte in mir ein tiefe, kraftvolle Sehnsucht nach Echtheit und Ehrlichkeit, nach Selbstverantwortung und danach, meine Werte zurückzuerobern, die mir heilig waren. Eine Sehnsucht danach, ich selbst sein zu dürfen anstatt gegen mich zu kämpfen. Jetzt endlich nahm ich dich wieder wahr. Ich lernte dich von einer neuen Seite kennen als jemanden, der es gut mit mir meint, der weiß was zu tun ist, dem ich vertrauen kann.

Aus der Sehnsucht wurde Entschlossenheit. Ja, ich spürte den Boden wieder unter meinen Füßen, und zwar ganz real. Mein Gang wurde energischer und aufrechter. Ich konnte mich wieder im Spiegel und den Menschen in die Augen sehen. Es blitzten Momente von schöpferischer Lebenslust auf. Seit Monaten zum ersten mal hörte ich die Vögel singen und die Blätter rauschen. Ich fing wieder an zu leben! Gleichzeitig hieß es aber auch, Dinge loszulassen, die ich lieb gewonnen hatte, die angenehm und bequem waren, aber die letztendlich doch nicht zu mir gehörten. Das hätte ich ohne dich wahrscheinlich nicht geschafft. Wie gut, dass du zurückgekommen bist, denn erst miteinander sind wir die Person, die sich nicht verbiegen muss um es anderen recht zu machen und geliebt zu sein, sondern die die sein darf, die sie ist: wertvoll und liebenswert in den Augen dessen, der sie erschaffen hat und damit auch wertvoll und liebenswert in den eigenen Augen.