Krisen sind Chancen! Diesen Satz hört man immer wieder. Wenn allerdings gerade die eigene Welt zusammenbricht, klingt er wie eine leere Phrase. Für den Partner droht nach dem Outing des geliebten Menschen schließlich der ganze bisherige Lebensentwurf zu scheitern. Auch für Eltern gleicht es einem Erdbeben, wenn das Kind sich outet, unabhängig davon, ob es noch jugendlich oder schon erwachsen ist. Was muss passieren, damit aus der Krise wirklich eine neue Chance wird? Was kann man selbst dazu beisteuern, dass man gestärkt aus der Krise hervorgeht?

In der Psychologie gibt es verschiedene Modelle, die eine Krise in Phasen mit typischen Merkmalen einteilt. Besonders bekannt geworden ist das Modell von Verena Kast, die für den Fall der Trauerbewältigung vier Phasen definiert. Ich habe inzwischen viele Schicksale von Frauen schwuler Männer kennengelernt und festgestellt, dass Verena Kasts Modell den immer wieder verblüffend ähnlichen Verlauf der Krise nach dem Outing des Mannes sehr treffend beschreibt. Natürlich gilt dasselbe auch für Partner von Lesben, doch aufgrund meiner eigenen Betroffenheit werde ich nachfolgend zugunsten der Verständlichkeit die Seite der Partnerin eines schwulen Mannes beleuchten.

Für Eltern ist das Outing ihres Kindes keine so existenzielle Krise, aber auch hier sind die Phasen in abgeschwächter Form erkennbar. Deshalb werde ich auch ihre Position kurz aufzeigen.

Die Phasen der Krisenbewältigung zu kennen kann hilfreich sein, um festzustellen, dass man völlig normal ist. Die eigenen Verhaltensmuster und Reaktionen dürfen als zur Krise dazugehörig akzeptiert werden und müssen nicht bekämpft werden. Es soll aber auch dazu anspornen, nicht in einer Phase zu verharren, sondern sich weiter zu entwickeln, damit die Krise wirklich gewinnbringend überwunden werden kann.

1. Die Phase des Nicht–wahrhaben–Wollens

Oft sind es zunächst nur Ahnungen oder versteckte Hinweise, die bei der Partnerin einen ersten Verdacht auslösen, dass ihr Mann schwul oder bisexuell sein könnte. Da auch von Seiten des Mannes meist nicht offen kommuniziert wird (und vielleicht sogar selbst noch keine Klarheit besteht), ist es oft über einen sehr langen Zeitraum (manchmal über Jahrzehnte) möglich, sich der Realität nicht zu stellen. Das Bizarre ist, dass sich die Partner ja möglicherweise richtig gut verstehen und eine harmonische Beziehung führen. Warum sollte man sich also Sorgen machen? Warum schlafende Hunde wecken? Und es findet sich ja auch so viel Ablenkung und Arbeit, die das Verdrängen leicht machen! Das Bauchgefühl, das sich hin und wieder meldet, kann man gut unterdrücken. Vor allem wir Frauen werden zu wahren Künstlerinnen des Verdrängens, weil wir ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit haben und auch oft finanziell von unseren Partnern abhängig sind. Solange die Fakten also nicht wirklich offen auf dem Tisch liegen, ist es auf jeden Fall bequemer, mit Scheuklappen durchs Leben zu laufen, als sich mit der Realität auseinander zu setzen. Das Leben kann weiter seinen zumindest nach außen hin normalen Gang nehmen. So kann es dann passieren, dass Freunde das „Problem“ früher wahrnehmen als die Partnerin. Außenstehende erkennen mit ihrem gesunden Menschenverstand die Ungereimtheiten, während Betroffene sich zwanghaft Erklärungen und Entschuldigungen zurechtbasteln, die alles andere als logisch sind. Damit nehmen sie ihren Partner in Schutz und geraten in eine regelrechte Co-Abhängigkeit. Wenn der Verdacht sich dann jedoch wirklich erhärtet, hat sich das Verdrängungsmuster oft so stark eingeprägt, dass es noch lange dauern kann, bis sich die Bereitschaft zur Auseinandersetzung einstellt. Immer wieder hofft man, aus diesem Alptraum zu erwachen, um dann festzustellen, dass die Welt wieder in Ordnung ist.

Für Eltern kommt die Wahrheit meist direkter in Form eines Geständnisses, nachdem sich das Kind schon über Jahre hinweg mit seiner eigenen Identität auseinandergesetzt hat. Der Moment des Schockes ist unter Umständen größer, weil der Blitz aus dem sprichwörtlichen heiteren Himmel ohne Vorwarnung einschlägt, aber die Phase des Verdrängens ist meist nicht so ausgeprägt, auch weil das eigene Schicksal nicht so unmittelbar davon betroffen ist. Je nach theologischer Überzeugung ist das Motto dann eher: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“

Während dieser Phase suchen und benötigen Betroffene meist keine Hilfe, weil sie ihre Krise ja noch komplett verdrängen. Es ist aber ein unbezahlbares Geschenk, wenn sie gute Freunde haben, die die drohende Krise aufmerksam wahrnehmen und mit viel Feingefühl für die folgende Phase bereitstehen.

2. Die Phase der aufbrechenden chaotischen Emotionen

Diese Phase setzt bei der Partnerin ein, wenn die ehrliche Auseinandersetzung mit der Realität beginnt. Das ist dann der Fall, wenn aus einem Verdacht Gewissheit wird, ein Outing stattgefunden hat oder der homosexuelle Partner emotional und körperlich auf Distanz geht. Sie ist die anstrengendste Phase, sowohl für die Betroffene als auch für ihre Mitmenschen. Die Emotionen fahren Achterbahn, lassen sich kaum noch kontrollieren und sind auch für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Zunächst einmal herrscht große Verwirrung, gepaart mit quälenden Schuldgefühlen: was habe ich falsch gemacht; was stimmt mit mir nicht? Dazu kommt natürlich auch Wut und Zorn auf den Partner, der die eigene heile Welt zerstört hat. Daneben versetzt Angst in Panik. Schmerz, Trauer und Selbstmitleid sorgen für regelmäßige Heul-Attacken, und Hoffnungslosigkeit kann in die Depression führen. Außerdem bewirken Schamgefühle, dass freundschaftliche und soziale Kontakte gemieden werden, was in der Isolation enden kann. Der Selbstwert rutscht in den Keller. Viele Homosexuelle schaffen es nicht, ihre Neigung zuzugeben, was die ganze Situation verschärft. Im Gegensatz dazu stellt sich in der Partnerschaft oft eine große Offenheit füreinander ein, wenn der schwule Partner sich outet und endlich über das gesprochen werden kann, was bis dato tabu war. Besonders typisch ist daher eine erste Erleichterung bis hin zur Euphorie, weil die Partnerin endlich weiß, wo sie dran ist. In dieser Phase ist die Beziehung zum Partner oft besser als jemals zuvor. Dadurch wird stark die Hoffnung genährt, dass das Leben auch weiterhin gemeinsam zu meistern ist. Allerdings ist diese Euphorie meist nur von kurzer Dauer. Durch die extreme emotionale Belastung treten in dieser Phase vermehrt körperliche Reaktionen in Form von psychosomatischen Beschwerden, Infektionen und Schlafstörungen auf.

Eltern reagieren in dieser Phase oft mit Ablehnung, Unverständnis und Distanz. Sie schämen sich, weil sie auf einmal in der eigenen Familie mit einem Thema konfrontiert werden, zu dem sie vielleicht sogar öffentlich einmal Stellung bezogen hatten. Sie haben oft nicht den Mut, mit anderen über ihre Sorgen zu reden.Viele werden auch von Schuldgefühlen geplagt, weil sie denken, dass sie in der Erziehung versagt haben. Das Verhalten ihres Kindes passt nicht mehr in ihr Weltbild, und ihre wohlgemeinten Träume für ihr Kind drohen zu zerplatzen. Wenn das Kind dann auch noch einen homosexuellen Partner hat, ist die Unsicherheit noch größer, und oft wird der Partner vehement abgelehnt. Hier ist die Gefahr von gegenseitiger Verletzung vorprogrammiert, weil das Kind sich danach sehnt, von den Eltern bedingungslos angenommen zu werden, diese aber (noch) nicht dazu fähig sind.

Sowohl Partnerinnen als auch Eltern ist zu wünschen, dass sie diese Phase nicht allein bewältigen müssen, sondern sich Freunden oder Familienmitgliedern anvertrauen können (ohne das Thema an die große Glocke zu hängen). Obwohl es sich zunächst wie Verrat anfühlt, ist es in der Regel eine große Erleichterung, nach einer oft langen Zeit des Schweigens überhaupt einmal mit jemandem reden zu können. Und es ist ein erster Schritt des Aktivwerdens. Es ist auch keine Schande, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, spätestens dann, wenn sich psychosomatische Symptome zeigen!

3. Die Phase des Suchens, Findens und Sich–Trennens

Dieser Prozess setzt mit der Akzeptanz der unveränderlichen Gegebenheiten ein. Oft hat die vorherige Phase alle Energie der Partnerin aufgebraucht. Bisher blieb sie in der Opferrolle gefangen, war wie gelähmt und hat sich immer weiter runter ziehen lassen oder bestenfalls im Kreis gedreht. Jedenfalls waren die bisherigen Phasen kräftezehrend und wenig konstruktiv. Es stellt sich Resignation ein, und es wird immer klarer, dass Entscheidungen getroffen und Grenzen gesetzt werden müssen zum Schutz beider Seiten. Das Bewusstsein, dass die Basis der Beziehung nicht mehr gegeben ist und hinter einer nach außen hin heilen Fassade einiges marode ist, leitet die Suche nach einem authentischen Leben ein. Wer bin ich selbst noch? Welche Rolle spiele ich? Welche Bedürfnisse habe ich? Worauf kann ich bauen? Unter welchen Gegebenheiten und zu welchem Preis kann es weiterhin eine Beziehung geben? Was kann ich mit meinen Werten vereinbaren? Welches Vorbild gebe ich meinen Kindern?…. Auch der homosexuelle Partner muss diese Fragen für sich beantworten, vor allem aber die Frage, ob er seine Neigung ausleben möchte oder zugunsten seiner Frau ein Leben im Verzicht führen will und kann. Letzteres bedeutet zumindest für einen der Partner sexuell unerfülltes Leben und ist ein steiniger Weg.

Die Phase des Suchens und Findens verläuft von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Das hängt natürlich hauptsächlich davon ab, ob die Homosexualität ausgelebt wird oder nicht, aber auch, ob die Partner offen miteinander reden können. Ist dies der Fall, machen sich im besten Fall beide Seiten gemeinsam auf die Suche nach lebbaren Wegen. Jetzt spielt es (vielleicht sogar erstmals) eine bedeutende Rolle, sich mit seinen eigenen Bedürfnissen wahr und ernst zu nehmen und das auch gut zu kommunizieren. Mit dem Outing haben sich die Rahmenbedingungen grundlegend verändert, und die Spielregeln müssen neu definiert werden. Es handelt sich hier nicht um eine „normale“ Ehekrise, die mit einer Eheberatung zu lösen wäre!

Selten gibt es eine schnelle Lösung, vielmehr ist es ein vorsichtiges Herantasten und Ausprobieren und immer wieder Überprüfen, ob die angestrebte Lösung noch allen Beteiligten gerecht wird. Vielen Paaren, die bisher eine harmonische Ehe geführt haben, kommt eine Trennung erst einmal nicht in den Sinn. Sie versuchen eine Art von Wohngemeinschaft und führen eine platonische Beziehung. Das macht durchaus Sinn, vor allem, wenn Kinder zur Familie gehören. Andere Frauen versuchen, sich zu arrangieren, indem sie homosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe dulden. Da muss letzten Endes jeder selbst entscheiden, zu welchen Zugeständnissen er bereit ist und sich immer wieder ehrlich fragen, ob der eingeschlagene Weg nicht falsche Rücksichtnahme ist. Reines Erdulden um des lieben Friedens willen oder zugunsten der eigenen Bequemlichkeit ist langfristig meist zum Scheitern verurteilt.

In den weitaus meisten Fällen führt diese Phase allerdings zur Trennung. Es hat viele Verletzungen gegeben, und das gegenseitige Vertrauen ist derart gestört, dass die Beziehung von Misstrauen und Lügen gekennzeichnet ist. Meistens ist es die betrogene Partnerin, die die Reißleine zieht und Eigenverantwortung für ihr Leben übernimmt. Das heißt, dass sie nicht einfach mehr Opfer der Umstände bleibt, sondern selbst aktiv wird und nach Möglichkeiten sucht, ihr Leben selbst zu gestalten. Nach einer solchen Entscheidung stellen sich oft positive Emotionen ein, die wiederum ungeahnte Energien freisetzen. Nach dem ersten Schritt in Richtung Eigenverantwortung sind die folgenden Schritte oft erstaunlich leicht.

Eltern beginnen in der 3. Phase, ihr Kind neu wertzuschätzen. Sie hinterfragen ihre eigenen übernommenen Grundsätze, weil sie ihr Kind verstehen möchten. Um ihm zu zeigen, dass sie es nach wie vor lieben, können sie auch mal über den eigenen Schatten springen und Schritte auf das Kind zugehen. Im Idealfall, wenn das Vertrauen in der vorherigen Phase nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde, entspannt sich das Verhältnis deutlich.

Die 3. Phase ist eine sehr kreative Phase: der Schritt vom Reagieren zum Agieren; raus aus der Opferrolle, rein in die Selbstverantwortung. Sie ist die wichtigste Voraussetzung, um die Krise nachhaltig gut zu bewältigen. Auch wenn Hilfe von außen nicht mehr so akut benötigt wird, tut es Betroffenen doch gut, wenn es jemanden gibt, der sie auf diesem Weg begleitet und Mut macht, begonnene Wege konsequent weiter zu gehen.

4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs

Nachdem Lösungen gefunden, Entscheidungen getroffen und neue Wege eingeschlagen wurden, ist die heiße Phase der Krise eigentlich vorbei, und es kehrt innere Ruhe ein. Die Partnerin ist bereit, ihr Leben noch einmal neu zu entwerfen und hat wieder Träume und Ziele, die Wunden fangen an zu verheilen. Aber die Krise ist noch nicht abgeschlossen. In der letzten Phase geht es darum, sie im Rückblick zu verstehen, daraus zu lernen und ihr den Platz im Leben einzuräumen, der ihr zusteht. Die Krise hat nicht nur äußerliche Veränderungen bewirkt, sondern auch den Charakter geformt, zur Selbstfindung beigetragen und die Betroffene letztendlich zu dem gemacht, was sie jetzt ist: eine gereifte Persönlichkeit mit einem neuen Selbstbild und gestärktem Selbstvertrauen. All das will gewürdigt werden! Auch wenn wohl niemand die Krise noch einmal erleben möchte, will rückblickend kaum jemand die Erfahrungen daraus missen. Man lernt, die durchgestandene Krise als wertvollen Bestandteil des Lebens zu akzeptieren, vielleicht sogar mit einem Gefühl von Dankbarkeit.

Krisen verändern die Sicht auf sich selbst, aber auch die Sicht auf Gott und die Welt. Die anfänglich empfundene Sinnlosigkeit lässt das Leben gründlich überdenken. Dinge und Werte, die bisher richtig und wichtig waren, erscheinen auf einmal unbedeutend. Durch die neuen Gegebenheiten kristallisieren sich andere Werte heraus, die sich für die neue Situation als tauglicher und tragfähiger erweisen. Die Antworten auf die Sinnfragen, die im Verlauf der Krise gefunden werden (oder auch nicht!), verändern sowohl das eigene Weltbild als auch den Glauben und die Gottesbeziehung. In der Krise wird der Glaube auf die Probe gestellt. Manchmal stellt sich heraus, dass der bisherige Glaube nicht belastbar war, was dazu führen kann, dass er zerbricht. Genauso ist es aber auch möglich, dass Glaube neu definiert wird und dadurch tiefgründiger und die Beziehung zu Gott persönlicher wird.

Die Dauer der einzelnen Phasen ist individuell sehr verschieden. In der Regel gehen aber mindestens zwei Jahre ins Land vom Beginn der zweiten Phase bis zur Überwindung der Krise.

Auch wenn wir es hier mit einem Modell zu tun haben und das Leben viele unterschiedliche Variationen bietet, findet sich doch wahrscheinlich jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte irgendwo wieder. Besonders für diejenigen, die noch einen weiten Weg vor sich haben, kann das Modell Mut machen, nicht in einer der Phasen zu stagnieren, sondern sich gegebenenfalls Hilfe zu suchen und die Chancen der Krise zu nutzen, um das Leben wieder neu zu entdecken. Es gibt Licht am Ende des Tunnels! Das Leben wird wieder gut – meist sogar besser!

Was allerdings jetzt noch nicht geklärt ist, das sind die Fragen zu Beginn des Artikels: Was muss passieren, damit aus der Krise wirklich eine neue Chance wird? Was kann man selbst dazu beisteuern, dass man gestärkt aus der Krise hervorgeht? Das hat mit dem zu tun, was in der Psychologie als Resilienz bezeichnet wird. Aber dazu wird es demnächst einen extra Blog geben….